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Der Nachbar
(von Sebastian Poullie)

(prämiert mit dem 2. Platz und dem Publikumspreis
des 7. Kölner Kurzgeschichten-Wettbewerbs)

 

 

Das Nachbargrundstück hatte lange Zeit leer gestanden. Neben Karls Haus klaffte eine hässliche Lücke. In den letzten Tagen nun war jedoch endlich ein Bautrupp eingetroffen, der dort ein neues Gebäude errichten und die Lücke schließen würde.   

Von seinem Schlafzimmerfenster aus, das in Richtung Garten gelegen war, leicht verdeckt durch die Gardine, verfolgte Karl die Arbeiten auf der Baustelle mit regem Interesse. Die dortigen Abläufe und Vorgänge wurden für ihn anfangs zu einem willkommenen Spiel, das seinem zu jener Zeit sehr leeren Leben einen oberflächlichen Sinn verlieh. Er brauchte die Prozessualität, den Aufbau, nichts hier innerhalb seiner eigenen vier Wände konnte ihm eine derartige Genugtuung verschaffen. Fernsehen wie Bücher erschienen ihm sinnentleert, umrahmten nur ihre eigene kleine Welt, während er in den Bauarbeiten auf dem Nachbargrundstück eine Veränderung vorgehen sah, die seine Welt, und vielmehr noch, ihn direkt betraf. Nicht, dass er etwa gehofft hätte, besonders nette Nachbarn zu bekommen, jemanden, zu dem er eine gute Beziehung hätte aufbauen können. Nein, was den Umgang mit anderen Menschen anbelangte, darin war er schon lange nicht mehr gut. Er hatte das Gefühl, den Anschluss verloren zu haben, außen vor zu stehen, nicht mehr kompatibel zu sein. Infolgedessen hatte er ein Desinteresse an sozialen Kontakten entwickelt, um keine Reue mehr über das empfinden zu müssen, was ihm nicht mehr zukam.

So entwickelte er eine wachsende Faszination für die neue Baustelle und beobachtete sie täglich mehrere Stunden. Und wenn er nicht schlafen konnte, warf er auch nachts den einen oder anderen Blick hinaus.

Je länger er die Bauarbeiter beobachtete, desto mehr erschienen sie ihm seltsam, mechanisch, ja, unmenschlich. Es war etwas an ihnen, das anders war, was genau, vermochte Karl jedoch nicht zu sagen. Es war etwas in ihrer Ausstrahlung, etwas in ihrer Aura, das ihnen eine Fremdartigkeit verlieh, die Karl ebenso sehr faszinierte wie abstieß.

Es schien, dass sie sich nie Anweisungen gaben, immer genau wussten, was jeder zu tun hatte. Sowieso unterhielten sie sich scheinbar kaum miteinander, und wenn, dann war es so leise, dass Karl nichts davon verstehen konnte. Nie machten sie eine Pause, aßen oder tranken etwas. Immerzu waren sie tätig, beschäftigt mit dem Bau, und auch nachts legten sie ihre Arbeit nicht nieder. Und wenn sie sich dann im Licht der Scheinwerfer bewegten, erschienen ihre langen Schatten manchmal gespenstisch und dürr, zitternd, wie insektenhaft.

Manchmal sah sich Karl gezwungen, das Fenster zu öffnen und an der Fassade seines Hauses herabzusehen, um zu prüfen, ob sich nicht einer der Bauarbeiter an der Wand zu schaffen machte, denn kratzende und schabende Geräusche weckten ihn in dieser Zeit häufig aus seinem fragilen Schlaf. In den Bildern, die ihm dann erschienen, wenn ihm, noch nicht ganz wach, jene Geräusche zu Ohren kamen, sah er oftmals einen der Bauarbeiter wie einem großen Insekt gleich, hektisch und zappelnd die Fassade heraufkrabbeln, woraufhin er erwachte, und sogleich, wenn auch von einem starken Unbehagen erfüllt, das Fenster öffnen und die Situation überprüfen musste.

Einmal, als er etwas später als gewöhnlich zu Bett ging, da glaubte er für einen Augenblick, im Dunkel der Nacht die Silhouette eines Kopfes an seinem Fenster zu sehen. Gierig und stieläugig schien der Fremde ins Fenster zu starren, nur um plötzlich blitzschnell und zuckend wieder zu verschwinden. Karl stürzte daraufhin zum Fenster, riss es auf und lehnte sich über die Fensterbank so weit wie möglich hinaus, um alles überblicken zu können. Doch außer den seltsamen Bauarbeitern auf dem Nachbargrundstück war dort niemand, und keiner von ihnen hätte so problemlos hier heraufkommen und dann so schnell wieder ungesehen verschwinden können. Also beschloss Karl, dass es gesünder wäre, den Kopf am Fenster seiner Einbildung, seiner geistigen Abspannung und der Dunkelheit zuzuschreiben. Trotzdem festigte sich in ihm die Erkenntnis, dass mit dieser Baustelle etwas nicht stimmte, dass hier etwas Seltsames geschah, das er jetzt noch nicht begreifen konnte.

Monate vergingen, und Karls Beschäftigung entwickelte sich zu einer regelrechten Besessenheit. Dabei waren es nicht die Bauvorgänge an sich, die ihn interessierten, sondern vielmehr die Tatsache, dass er glaubte, was auch immer dort drüben geschah, geschehe wegen ihm: Er empfand sich als Ursache und Ziel der Bauarbeiten, als Dreh- und Angelpunkt. Nur wegen ihm war man hier, nur wegen ihm errichtete man jenes Gebäude. Dies fand er darin bestätigt, dass er die Bauarbeiter immer wieder dabei beobachten konnte, wie sie zu seinem Fenster herauf sahen und sich augenscheinlich über ihn und sein Haus unterhielten. Auch glaubte Karl hin und wieder, wenn er im Bett lag, oder eine Mahlzeit zu sich nahm, von irgendwoher beobachtet, studiert zu werden.

Eines Nachmittags war das Haus dann schließlich fertig und die Bauarbeiter waren vorerst abgezogen, als Karl beschloss, es sich mit Ruhe und Sorgfalt in seiner endgültigen Form anzusehen.

Die Häuserreihe war nun komplett geschlossen, keine hässliche Lücke verschandelte mehr das Bild der Straße, und überhaupt passte der Bau nur allzu gut neben sein eigenes Haus. Zuerst erfreute sich Karl an dem Anblick, dann jedoch stellte er etwas fest, das ihn sehr beunruhigte. Nicht nur, dass das Haus dem seinen in Architektur und Gestaltung sehr ähnlich war, nein, diese Tatsache war ihm schon in früheren Stadien des Baus aufgefallen. Aber dieses neue Haus glich seinem bis ins kleinste Detail! Jeder Stein, jede Fuge, ja, sogar die kleinsten Strukturen waren vollkommen identisch! Nur die andere Hausnummer, 38 anstelle von 36, machte es noch möglich, die beiden Gebäude zu unterscheiden. Als Karl in eines der Fenster blickte, sah er einen der Bauarbeiter, der, den Innenraum scheinbar vor Karls Blick verbergen wollend, eine Gardine zuzog. Auch diese glich denen von Karl haargenau.     

In den nächsten Tagen wurde Karl krank, er verließ das Haus nicht mehr und verbrachte seine Zeit fast nur noch im Bett. Aus dem Fenster wollte er nicht mehr sehen, die Bauarbeiter und das Haus nebenan erfüllten ihn nun mit einem Grauen, das er sich jetzt nicht mehr zu ertragen in der Lage sah. Stattdessen hatte er die Vorhänge zugezogen, denn je öfter er sich an den Kopf erinnerte, den er an seinem Fenster gesehen zu haben glaubte, desto wirklicher erschien er ihm, und so war es ihm daran gelegen, jede Möglichkeit, von außen in seine Wohnung sehen zu können, zu unterbinden.

Seine Angst ging so weit, dass er es kaum wagte, die Fenster zu öffnen, um zu lüften. Sowieso tat er dies nur tagsüber, doch war es trotzdem immer eine sehr lange und schwierige Prozedur, brauchte er doch erst minutenlang, um sich zu überwinden, einen schnellen und unklaren Blick hinter die Vorhänge zu werfen, um sicherzugehen, dass auch niemand in sein Fenster schaute, nur um es dann anschließend zögerlich und nur gerade so weit zu öffnen, wie absolut nötig.

Als er in jenen Tagen einmal des Nachts im Bett lag und halb dämmernd ins Leere sah, glaubte er aus dem Nebenzimmer einen Krach zu hören, ein Trippeln und Klappern, wie von hunderten dürrer spitzer Beinchen. Laute wie von einer Unterhaltung in einer fremden, nie gehörten Sprache drangen in Fetzen zu Karl hinüber, und er, gelähmt vor Angst, bewegte sich kein bisschen, lag schwitzend und völlig starr, bis die Geräusche nach gefühlten Stunden mit der Dämmerung zu verschwinden begannen. Der Schlaf, in den Karl danach fiel, war tief, aber durchzogen von unruhigen und fieberhaften Träumen. Als er erwachte, erschienen ihm die Ereignisse der vergangenen Nacht fern und unwirklich, doch beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl, als er ins Nebenzimmer trat und feststellte, dass das Fenster noch geöffnet war. Er konnte sich bei aller Mühe nicht erinnern, es am vergangenen Tage offen gelassen zu haben, vor allem, da ihm ein geöffnetes Fenster in jenen Tagen immer wie ein stechender Makel erschien, den er tilgen musste, um überhaupt nur ein wenig zur Ruhe kommen zu können.

Gehemmt von Angst, aber getrieben vom Drang, irgendetwas tun zu müssen, um sich vor den Dingen zu schützen, die man hier mit ihm trieb, begann Karl, das Geschehen auf der Vorderseite des Hauses zu beobachten, versteckt hinter der Gardine und mit einem Fernglas in der Hand, das ihm erlauben würde, wichtige Details sehen zu können.

Die Bauarbeiter waren keineswegs verschwunden. Nicht nur, dass einige von ihnen scheinbar das Haus bewohnten, sie betätigten sich nun auch als Möbelpacker und transportierten Kisten und Mobiliar aus einem großen schwarzen LKW ins Innere des Nachbarhauses. Karl wurde von einer Übelkeit ergriffen, als er feststellte, dass alle Möbel, die da ins Haus getragen wurden, exakte Kopien seiner eigenen waren! Das zerlegene Bett, das alte Sofa, der Wandschrank, alles war absolut identisch. So musste er nicht in die Kisten schauen, um zu ahnen, was sich darin befand. Ganz offensichtlich transportierten sie dort seine Teller, sein Besteck, sicher auch seine Wanduhr, das Fernglas, das er gerade in der Hand hielt und mit Sicherheit auch seine Kleidung.

Karl fühlte sich dem nicht mehr gewachsen. Was anfangs noch sein reges Interesse geweckt hatte, erfüllte ihn jetzt mit Abscheu und Schrecken, doch etwas zwang ihn, immer wieder hinauszuschauen, auch wenn er sich in jenen Momenten oftmals fast übergeben musste. Noch seichter, noch unruhiger wurde jetzt sein Schlaf, und einmal fühlte er sich mitten in der Nacht dazu gedrängt, hinunter auf die Straße zu gehen, hinüber zum Nachbarhaus, hin zur Eingangstür. Wie im Traum spürte er sich die Treppe hinunterschwanken, Schritt für Schritt, widerwillig, aber stetig, spürte sich aus seiner Haustüre hinaustreten und auf die Tür des Nachbarhauses zusteuern.

Krampfhaft versuchte er, die Augen geschlossen zu halten, denn er wollte nicht sehen, was er dort bei der Tür zu sehen befürchtete. Doch dann riss es ihm die Augen auf und er sah auf den Klingelknopf, neben dem er seinen eigenen Namen geschrieben fand.

Von da an war er sich manchmal nicht mehr ganz sicher, ob er sich in manchen Momenten wirklich in seinem eigenen Haus befand, oder doch nebenan, im Haus mit der Nummer 38, denn er vermutete, dass man ihn manchmal, wenn er schlief, heimlich und unauffällig ins Nachbarhaus hinübertrug und dort ins Bett legte. Wenn ihm dieser Gedanke kam, schaute er hinaus auf die Straße, und versicherte sich, dass das identische Haus zu seiner linken lag. Oft waren die Zweifel und die Gedanken an eine Täuschung allerdings so stark, dass er innerhalb des Hauses begann, nach Unterschieden zu suchen, nach kleinen Details, die die Bauarbeiter nicht ganz originalgetreu hatten nachstellen können oder einfach übersehen hatten. Sie waren allerdings mit einer derartigen Aufmerksamkeit vorgegangen, dass man ganz genau hinschauen musste, um minimale Unterschiede ausfindig machen zu können. Die Flecken auf dem Teppich, der Schimmel in der Duschkabine, ja, sogar die Kratzer auf dem Parkett waren bis ins Kleinste imitiert worden. Aber hin und wieder fand Karl doch einen kleinen Fehler, eine umgeschlagene Ecke der Bettdecke oder ein paar Wassertropfen zu wenig in der Spüle.

Die zutiefst auszehrende Aufregung und Angst vergangener Tage wich bald einer resignierten Lethargie. Karl hatte keine Kraft mehr, er aß und trank nur noch selten und wenig, wusch sich nicht mehr, bewegte sich überhaupt kaum noch. Nur in ganz wenigen Momenten raffte er sich auf, träge an sein Fenster zu treten und hinüber zu sehen zum anderen Haus.

Die Arbeiten waren nun scheinbar tatsächlich beendet, denn schon seit einigen Tagen war kein einziger der Bauarbeiter mehr zu sehen gewesen.

Kaum beeindruckte es Karl, als dann irgendwann ein schwarzer Wagen vorfuhr und ein Mensch ausstieg, den er sehr wohl kannte. Dieser Mensch, der neue Bewohner des Nachbarhauses, war er selbst, Karl.

So stand er also oben am Fenster, befangen von einer beklemmenden Übelkeit, legte den Kopf schief, und sah sich selbst die Eingangstüre des Nachbarhauses aufschließen und hineintreten.

Karl war sich nicht mehr sicher, ob er hier oben stand und aus dem Fenster schaute oder soeben erst nach Hause gekommen war und nun durch seinen Flur schritt. Um ganz sicherzugehen, begab er sich vorsichtig nach unten, in Erwartung, dort auf sich selbst zu treffen. Aber der Flur war leer. Da war niemand. „Es geht zuende“, dachte Karl.  

Und so geschah es dann, dass es in jener Nacht laut und fordernd an die Haustüre klopfte.

Karl erhob sich vom Bett, geschlafen hatte er nicht, schon in der Erwartung daran, dass man ihn aufsuchen würde.

Noch bevor er ganz aufrecht stand, ertönte das Klopfen nun nicht mehr an der Eingangstüre, sondern schon hier, an der Tür seines Schlafzimmers. Als er öffnete, sah er sich selbst vor sich stehen, nicht überrascht, nur gleichgültig, lethargisch, schon die Gedanken seines Gegenübers mitdenkend, schon wissend, was nun zu tun wäre.

„Du“, sprach das Spiegelbild nüchtern und tonlos, und dabei wusste Karl nicht, ob er die Worte nicht selbst genauso mitsprach, „Du musst jetzt gehen.“

Wortlos begab sich Karl aus dem Zimmer, die Stufen hinab und hinaus auf die Straße, zu dem schwarzen Wagen, der schon seit der frühen Dämmerung, als er den Zwilling gebracht hatte, hier gestanden und auf ihn gewartet hatte. Der große hagere Chauffeur begrüßte Karl mit einem Nicken, dann öffnete er ihm die Tür und wies ihn stumm dazu an, auf den hinteren Sitzen Platz zu nehmen.

Karls Spiegelbild kehrte still in sein eigenes Haus zurück, um schließlich vom Fenster aus das Treiben auf der Straße beobachten zu können, immer leicht versteckt hinter der Gardine.

Vom Wagen aus konnte Karl sehen, wie die Bauarbeiter Werkzeuge und riesige Maschinen heranrollten. Einer von ihnen war damit beschäftigt, Karls Hausnummer abzuschrauben, nur um sie dann zum Nachbarhaus zu tragen und dort gegen die andere Nummer auszutauschen. Noch im Davonfahren beobachtete Karl, wie die Maschinen begannen, sein Haus abzureißen.

 

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