zum Inhalt springen

Die Traumwächterin
(von Stefan Jannes)

(prämiert mit dem 1. Platz des 7. Kölner Kurzgeschichten-Wettbewerbs)

 


Manchmal, wenn sie glaubt, ich schlafe, höre ich Sybilla leise flüstern: >>Wenn du dir selbst nicht trauen kannst, dann vertrau mir. Der Verstand eines Menschen ist ein Haus. Man fühlt sich in ihm geborgen. Die meisten Menschen haben keinen besonders ausgeprägten Verstand, sie sind nicht intellektuell, sie erinnern sich an viele Dinge nicht, die sie einmal erlebt haben. Ihre Häuser sind klein, wenn nicht sogar winzig. Manche von ihnen haben kleine Hütten, Stohhäuser, Bretterbuden. Winzig manchmal. Sie wissen genau, dass außerhalb ihres Hauses Dinge existieren, die sie nicht mitnehmen können, die nicht hineinpassen würden. Aber sie fühlen sich wohl darin. Ihr Haus ist geschlossen, vollendet. Sie wissen, wo die Tür ist, wo die Fenster sind.<< Sybilla flüstert leise: >>Wenn der Verstand eines Menschen normal ist, gleicht er einem beständigen, kleinen und schönen Gebäude.<<

Sie sagt, bei mir ist das nicht so. Sie sagt, mein Verstand ist anders. Mein Verstand versucht sich immer und immer wieder zu erneuern, er weiß nicht, wo er aufhört und wo die Welt anfängt. Er ist unvollendet und hegt dabei den Versuch gigantisch zu sein. Sybilla sagt oft, mein Verstand ist eine unvollendete Kathedrale. Die Baustelle meines Geistes. Die Andeutung eines Bauwerks, das gar nicht existieren kann. Kein Verstand kann alles umfassen. Aber genau das versucht mein Verstand. Dabei, wenn sie das sagt, weiß ich eine Sache besser als sie selbst. Sybilla versteht mich nicht unbedingt falsch.

Dabei ist es eigentlich nicht mein Verstand. Ich kontrolliere ihn nicht, und ich hege nicht bewusst den Versuch, eine legendäre Kathedrale aus ihm zu machen. Mein Verstand beflügelt sich selbst. Wenn Sybillas Gleichnis zutrifft, dann befinden wir uns in unseren Häusern und Hütten und benutzen sie nur, wie Gegenstände, die wir in die Hand nehmen und die wir anfassen können. Aber wir können sie nicht verändern, und wir haben sie auch nicht erschaffen. Wir sitzen in unseren Häusern und sind froh darüber, Obdach zu haben. Ich hingegen stehe auf der Baustelle meines Verstandes und kann nur zusehen, wie das Fundament immer tiefer und tiefer ausgehoben, der Beton gegossen, die Steine aufeinandergesetzt werden, nur um dann alles wieder zu verwerfen und an anderer Stelle weiterzugraben und zu mauern.

Meinen ersten Traum hatte ich in der Nacht, als meine Mutter starb. Irgendwann nach Mitternacht, als sie von der Arbeit im Krankenhaus hätte nach Hause kommen sollen, kamen stattdessen zwei Polizisten, die mit meinem Stiefvater ein langes Gespräch in unserem Wohnzimmer führten. Ich wachte auf, als sie kamen und wartete die gesamten zweieinhalb Stunden vor der Tür des Zimmers, bis mein Stiefvater schließlich herauskam und mich anraunte, ich solle ins Bett gehen. Ich erkannte am Blick eines der Polizisten, den ich durch die offene Tür sah, nicht am Blick meines Stiefvaters, dass meine Mutter tot war.

Später, als ich in meinem Bett lag, seit Stunden unfähig zu schlafen, hörte ich jemanden zur Tür hereinkommen, leise mein Zimmer betreten und in der Dunkelheit auf mich zu kommen. Als ich die Augen öffnete, sah ich deutlich das Gesicht meiner Mutter vor mir, die sich über mich gebeugt hatte, um mich zuzudecken. Dann wachte ich auf.

Meinen leiblichen Vater habe ich nie kennengelernt. Nachdem es meine Mutter nicht mehr gab, lebte ich zu unser beider Bedauern mit meinem Stiefvater zusammen. Er hatte etwas dagegen, dass ich ihn Papa nannte und einen Vater in ihm sah. Das lag aber nicht daran, dass ich ihn bewunderte oder etwas von ihm hätte lernen können. Es lag nur daran, dass mein Verstand ihn manchmal mit Personen verwechselte, die in meinen immer häufiger vorkommenden Träumen auftauchten. Er war immer desinteressiert und laut, mit einem Hang zu Melancholie, aber er sah sein größtes Problem darin, einen Jungen großziehen zu müssen, dessen Mutter er schon nicht geliebt hatte.

Irgendwann, ich war nicht viel älter geworden, hatte ich einen Traum, in dem ich durch einen klaren, blauen See schwamm, der zwar tief, aber dennoch bis zum Grund zu erkennen war. Ich schwamm bis in die Mitte des Sees und spürte deutlich die Kälte des Wassers auf meiner Haut und die warme Luft in meinen Lungen, als ich mich umsah und überlegte, in welcher Richtung das Ufer am nächsten sein musste.

Von einem Hai in die Tiefe gerissen zu werden, auch wenn es nur erträumt passiert, ist anders als man es sich vorstellt: Innerhalb von Sekundenbruchteilen passierten viele Dinge. Ich hatte mir vorgestellt, ein Hai, der einen Menschen angreift, würde diesen am Fuß hinunterziehen, jedoch biss, als ich im Traum angegriffen wurde, der Hai mich ins Bein, oder besser: Seine Zahnreihen gruben sich langsam ins Fleisch meines Beins, teilweise in den Ober- teilweise in den Unterschenkel, begleitet von einem so unerträglichen Schmerz, dass ich nicht wusste, was um mich herum passierte und wo der Schmerz überhaupt herkam. Ich spürte ihn nur durch meinen ganze Körper fließen, wie Strom, Hochspannung, mir alle Sinne raubend und es mir unmöglich machend, zu atmen oder zu schreien.

Dann, kaum eine Sekunde später, als ich langsam meine Sinne zurückgewann und die Augen öffnete, zog der Hai mich herab – und zwar so schnell und ruckartig –, dass mein Kopf nach hinten ins Genick flog. Dadurch sah ich kurz, mit dem unendlichen Schmerz einhergehend und bevor mir das Wasser entgültig die Sicht raubte, den blauen Himmel über mir.

Ich konnte mich nicht bewusst bewegen, nur ruckartig hin und herwinden und das Wissen, unter Wasser zu sein, war schwächer als der Drang zu schreien. Innerhalb von wenigen Sekunden hatte ich alle Luft aus meinen Lungen herausgebrüllt, die ich in Luftblasen über mir aufsteigen sah. Das Gefühl der eisigen Kälte des tiefen, klaren Wassers kam mir unendlich schwach vor gegenüber dem Schmerz meines völlig zerstörten Beins und meinen bedrohlich entleerten Lungen, die sich krampfhaft genau in dem Moment mit Wasser füllten, als ich erwachte.

Das unglaubliche Glücksgefühl, zu erkennen, dass alles nur ein Traum war. Ich streifte die Bettdecke ab und wollte die Füße auf den Boden setzen, als ich bemerkte, dass ich keine Luft bekam. Ich spürte einen Widerstand in meiner Kehle. Mein ganzer Körper zitterte vor Panik als ich feststellte, dass ich einen halben Liter Wasser in mein Bett erbrach. Ich war wie gelähmt, doch meine Lungen saugten sich durch puren Reflex wieder voll. Wieder und immer wieder. Ich bemerkte erst durch dieses Geräusch eines fast erstickten, dem das Schicksal erlaubt, wieder atmen zu dürfen, wielange ich weder im Traum, noch in der Realität Luft bekommen hatte. Es kam mir vor als säße ich stundenlang mit offenen Augen in der Dunkelheit meines Zimmers, schwer atmend, und immer wieder und wieder die nasse Bettdecke betastend, als ich bemerkte, wie sehr mein Bein schmerzte. Ich griff danach, doch es fühlte sich stark und gesund an. Der Schmerz blieb noch eine Weile, doch als ich das Licht anknipste, um mir die Bettdecke anzusehen, war das Wasser verschwunden.

Kurz darauf kam mein Stiefvater in mein Zimmer gestürmt. Er musste mich gehört haben. Mein Erwachen lag kaum eine Minute zurück. Als er mich fragte, was passiert sei, dachte ich kurz nach. Ich war damals noch sehr jung, aber ich wusste instinktiv, dass ich gerade etwas erlebt hatte, das mir niemand glauben würde. Also sagte ich nur, >>Alptraum<<, legte die Bettdecke wieder über mich, drehte ihm den Rücken zu und wartete, bis er den Raum verlassen hatte.

Obwohl ich ihn nie leiden konnte, war mein Stiefvater der Mensch, der mein Leben durch eine Tat am meisten verändert hatte: Er stellte mich Sybilla vor. Das tat er weniger deshalb, weil er es gut mit mir meinte, als deshalb, weil er es gut mit sich selbst meinte. Obwohl er nicht sehr gebildet war, empfand er es als psychologisches Problem, dass ich ihn praktisch nie ansah. Er verstand das als Entfernung von der Realität und dachte, so etwas könne geheilt werden. Ich erinnere mich noch gut, dass er oft abends in meinem Zimmer saß und laut auf mich einredete. Weder hörte ich ihm zu, noch sah ich ihn jemals an. Nicht aus Boshaftigkeit oder Trotz, sondern weil mein Verstand ihn von Anfang an als langweilig, als unwichtig eingestuft hatte. Nichts davon half. Die Versuche meines Stiefvaters blieben ohne Wirkung. Aber als er die kleine Sybilla mitbrachte, musste ich sie einfach ansehen. Er war vielleicht ein wenig böse darüber, dass es so schnell ging, aber er verließ den Raum sofort wieder und sagte, ohne sich dabei umzudrehen: >>Mach doch was du willst!<<

Sybilla war ein Jahr jünger als ich, aber sie wusste schon damals zu allen Dingen, die uns Kindern auffielen, kluge Kommentare abzugeben. Plötzlich hatte ich viel mehr Spaß an der Welt. Ich blieb nicht länger den ganzen Tag nur in meinem Zimmer. Ich fing an, mit Sybilla rauszugehen, und die Nachbarn warfen uns verwunderte Blicke zu. Sybilla erklärte mir, warum Sandburgen bei Regen länger hielten und bei Hitze nicht, warum Seifenblasen fliegen konnten und die Vögel nur tagsüber zwitscherten. Wir hatten eine schöne Kindheit, und die einzigen Male, von denen ich glaubte, ein Lächeln meines Stiefvaters gesehen zu haben, waren, als er mich und Sybilla im Vorübergehen auf dem Spielplatz beobachtete. Sybilla war der einzige Mensch, bei dem es mir nicht schwerfiel, zuzuhören und hinzusehen.

Eines Tages warfen die Kinder auf dem Spielplatz eine Münze, um zu bestimmen, wer den Fußball holen sollte, der in den Garten des griesgrämigen, alten Herrn geflogen war, der am Straßenende wohnte. Sobald die Münze in der Luft war und sich elegant um sich selbst drehte, nahm ich die Gegenwart doppelt wahr. Sybilla würde sagen, mein Bewusstsein übereiferte sich. Die Münze fiel für mich zweimal, einmal Kopf, einmal Zahl, und kurz darauf sah ich mich einmal über den Zaun kletternd, einmal im Gras liegend und Oliver dabei beobachtend, wie er den Ball zu holen hatte.

Sybilla holte mich zurück, indem sie mich heftig schüttelte und ich stellte erschrocken fest, dass keine der beiden Realitäten, die ich gerade wahrgenommen hatte, zutraf. Ich lag etwa fünfzig Meter von den anderen Kindern entfernt mit Sybilla im Gras und hatte sie beobachtet.

Danach lagen wir lange nebeneinander und haben geschwiegen. Nach einer Weile fing Sybilla an, darüber zu reden wie ich die Welt wahrnahm, warum ich manchmal die Welt doppelt sehen konnte und dann wieder gar nicht. Dabei hatte ich es ihr noch gar nichts davon erzählt, was ich gerade erlebt hatte. Sprach ich während meiner Träume?

Manchmal verstand ich die Welt nicht mehr. Ich begann, immer häufiger alles anzuzweifeln, was ich sah und erlebte. Es kam mir vor, als verwischte die Wirklichkeit ganz langsam aber unweigerlich und rückte hinter einen undurchdringlichen Dunst, dessen Vorhänge ich nicht mehr aufzuschieben vermochte. Die Realität entkam mir, ob gewollt oder ungewollt, es geschah einfach. Ich träumte nicht nur während ich schlief, auch im Sitzen oder im Gehen und Sybilla ging es langsam regelrecht in Fleisch und Blut über, mich immer und überall aufzuwecken und wachzurütteln.

Jetzt, in diesem Moment, spüre ich die Welt sich soweit von mir entfernen, dass ich vielleicht ein letztes Mal von ihr etwas wahrnehme. Ich liege wieder in meinem Bett, an dessen Kopfende mein Stiefvater sitzt und redet. Es fällt mir schwer hinzuhören, den Dunst der Wirklichkeitsverwischung beiseite zu schieben, bis ich die letzten Worte höre, die er zu mir sagt: >>Ich weiß nicht mehr weiter, niemand versteht dich!<< Und mit einem schwachen, inneren Aufbegehren und mit heiserer Stimme antworte ich: >>Sybilla versteht mich.<<

Ganz leise, fast zittrig, mehr zu sich selbst redend als zu mir, als ob ich mich nicht im selben Zimmer mit ihm befände und er in diesem Moment allein sei und niemand ihn hören könne, fragt mein Stiefvater irgendetwas, doch ich höre ihm schon nicht mehr zu. Ich bemerke nur, als würde ich durch milchiges Glas sehen, wie er sich über mich beugt, mich kräftig anpackt, schüttelt, halb traurig, halb zornig, und so laut schreit, dass ich nicht genau weiß, ob es durch den Schrei an sich oder durch den Sinn der Frage ist, die er wiederholt, dass ich am ganzen Körper zu zittern beginne: >>Wer ist Sybilla?!<<

Ich antworte ihm nicht, sondern warte eine Weile, bis er mit leisen Schritten den Raum verlassen hat und frage Sybilla selbst, die bis dahin still im halbdunkel meinem Bett gegenüber gesessen hat, was mein Vater damit gemeint habe. Sie lässt sich mit ihrer Antwort lange Zeit, und ich kann nur erahnen, nicht sehen, dass ihre Augen mich streng beobachten, bis sie schließlich antwortet: >>Ich habe mich geirrt. Dein Geist ist nicht nur eine Kathedrale, die sich ständig zu vergrößern sucht. Ihr fehlt noch etwas, das für ein Bauwerk ganz entscheidend ist: Ein Fundament. Dein Verstand ist einem riesigen Luftschloss gleich, das im freien Raum schwebt, ohne Aussicht weder auf Vollendung, noch auf Befestigung. Beides aber wäre nötig, damit dein Verstand so funktionieren könnte, wie bei anderen Menschen. Damit du von irgendeiner Sache, die dir in deinem Leben begegnet, sagen kannst, dass sie nicht gleich in sich einstürzt und an anderer Stelle und in anderer Form wieder neu aufgebaut wird, müsste zumindest eines davon der Fall sein. Du kannst weder dir selbst, noch einem anderen trauen. Es tut mir leid. Ich habe mich geirrt. <<

Und obwohl ich weiß, dass es sinnlos ist, ihr zu antworten, tue ich es dennoch: >>Wir haben uns beide geirrt<<, sage ich mit fester Stimme in ein halbdunkles Zimmer, dessen Konturen und Umrandungen mehr und mehr verwischen. >>Ich fand, das war ein ziemlich schöner Irrtum.<<


© 2009 by KKW. Alle Rechte liegen beim Autor.