Der Hummelstreichler (prämiert mit dem 6. Platz des 7. Kölner Kurzgeschichten-Wettbewerbs) |
Ich war gerade zehn geworden, als wir in diesem Haus eingezogen sind, und seitdem habe ich ihn beobachtet. Den kleinen alten Mann mit der Schirmmütze, der jeden Abend – naja, fast jeden, denn Sonntags war er nie da – in seinem Garten arbeitete. Sein Garten hatte einen rechteckigen Grundriss und war von einem alten, schiefen Maschendrahtzaun eingefasst. Sein Garten war ein öffentliches Ärgernis, denn er ragte in eine Straße hinein, sodass die Autos im Bogen drumherum fahren mussten. Sein Garten war ein kleines Paradies inmitten urbaner Langeweile.
Frau Kolusch von nebenan hat mal erzählt, dem kleinen alten Mann sei viel Geld geboten worden, wenn er die zweidreiviertel Meter Garten abgebe, damit die Straße begradigt werden könne, aber er habe abgelehnt. Wie viel Geld? fragten die anderen sensationslüsternen Nachbarn, die neben meiner Mutter und mir in der warmen Abendsonne auf dem kleinen Parkplatz zusammenstanden. Nun, sagte Frau Kolusch, eine ganze Menge Geld. Der Freund des Cousins ihrer Fußpflegerin arbeite bei der Stadtverwaltung, sagte sie und blickte hochmütig in die Runde, um die Spannung zu steigern, bevor sie gewichtig die mehrstellige Summe nannte. Mein Gott, sagten die Nachbarn, für zweidreiviertel Meter! Kopfschütteln. Es sollte ihm enteignet werden, zum Wohle der Bürger! mischte sich der pensionierte Lehrer von gegenüber ein und machte ein strenges Gesicht. Dieser Garten sei eine Gefahr für die Allgemeinheit, pflichtete man ihm bei. Wo kämen wir hin, wenn wir jedem Krauskopf seinen Willen ließen! sagte Frau Kolusch kopfschüttelnd und stemmte die Hände in ihre ausladenden Hüften. Vielleicht möchte der alte Mann das Stück Garten nicht abgeben, traute ich mich zu sagen. Kind, sagte da eine Nachbarin, es kann nicht jeder tun was er möchte, denn der Wille der Allgemeinheit muss über dem Willen des einzelnen stehen und der Wille der Allgemeinheit sei es nun mal, die Straße zu begradigen. Hm, sagte ich unbestimmt und zog es vor zu schweigen, um nicht unhöflich zu sein. Dann zerstreute sich die Gruppe wieder.
Diesen Sommer saß ich oft am Fenster und träumte, das Kinn auf die Hände abgestützt. Von dort aus konnte ich den Mann sehen. Manchmal hatte er einen alten Strohhut auf. In geraden Reihen standen Bohnen, die sich an Metallgittern emporrankten. Im Wind schwankten Astern in rosa, zartgelb und violett, die Köpfe schienen zu schwer für die dünnen Stängel. Wenn ich zur Schule ging, ließ ich meine Finger über den rauen Zaun gleiten, atmete den schweren Duft der kleinen weißen Rosen, die morgens noch halbgeöffnet und taunass zwischen den wie lackiert glänzenden dunkelgrünen Blättern leuchteten. Wenn ich von der Schule zurück kam, dann war er oft schon im Garten. Er arbeitete nicht hastig; langsam und gründlich hackte er die Beete, beschnitt die Büsche und setzte die Blumenzwiebeln ein. Ich habe ihn nie dabei erwischt, wie er eine Pause machte. Er arbeitete ruhig und stetig weiter, bis es dunkel wurde. Dann räumte er die Werkzeuge weg und ging nach Hause. Ich habe nie herausgefunden, wo er wohnt. Er ging einfach die Straße entlang, bis er aus meinem Blickfeld verschwand. Ein kleine gebeugte Gestalt, deren Silhouette sich scharf gegen den rötlichen Abendhimmel abhob.
Eines Spätnachmittags kam ich mit meinem Fahrrad an seinem Garten vorbei. Der alte Mann saß auf einem kleinen Hocker über seine Blumen gebeugt. Es war heiß, die Luft war wie flüssiges Glas, an dem sich das bronzefarbene Licht der schon tief stehenden Sonne wie an einem Prisma brach und den Garten in ein Kaleidoskop geheimnisvoller Rottöne tauchte. Das Zirpen der Grillen war fast schon ohrenbetäubend. Haben Sie da etwa gerade eine Hummel gestreichelt? fragte ich den alten Mann und berührte den Zaun mit den Fingerkuppen. Ja, habe ich, erwiderte dieser und schaute auf. Die Sonne schien ihm direkt ins Gesicht, er hielt eine Hand schützend über die Augen, strahlendblau inmitten vieler Falten in einer Haut, die mich an gegerbtes Leder erinnerte. Das ist doch nicht schlimm, fügte er fast entschuldigend hinzu, er hätte nicht widerstehen können. Wenn du magst, kannst du gern rein kommen, sagte er und zeigte auf ein kleines verrostetes Tor. Ich lehnte mein Fahrrad an den Zaun und ging durch das hohe Gras zum Törchen, hielt einen Augenblick inne, bevor ich die Klinke beherzt herunterdrückte und den Garten betrat. Der Duft der warmen Erde stieg mir in die Nase, die Luft flirrte und löste die Konturen um mich herum auf. Ich fühlte den Garten. Der alte Mann saß auf seinem Hocker und grinste verschmitzt. Ich setzte mich zu ihm, und eine Weile lang beobachteten wir die Hummeln, wie sie in die Blütenkelche krochen und dann, bedeckt von Blütenstaub, wieder rückwärts herauskamen. Vorsichtig streckte ich meine Hand aus. Nur zu, die sind ganz flauschig! sagte der alte Mann. Ganz sanft, ganz zart berührte ich den Flaum einer ganz besonders dicken Hummel. Diese ließ sich bei ihrer Arbeit nicht stören und fuhrwerkte noch eine ganze Weile in der Blume herum, bevor sie wieder abhob, die Flügel scheinbar zu klein für den schweren Körper.
Von dem Tag an kam ich öfter zu dem alten Mann in den Garten. Manchmal gab er mir Blumen mit, für meine Mama. Manchmal durfte ich ihm helfen. Manchmal saßen wir einfach da und schwiegen. Einmal fragte ich ihn, warum er der Stadt nicht die zweidreiviertel Meter Land verkaufe. Tja, sagte er und schaute in die Ferne, für die Stadt ist es nur ein Ärgernis. Für mich sind es zweidreiviertel Meter Himmel, die verkauft man nicht einfach so.
Hm, sagte ich und nickte. Würd ich auch nicht machen. Meine Frau schon, sagte der alte Mann da und runzelte die Stirn. Sie mag den Garten nicht. Nur Arbeit, sagt sie immer, und so unpraktisch. Aber sie arbeitet doch gar nicht darin!, antwortete ich erstaunt. Eben! sagte der alte Mann.
Eines Tages war der alte Mann nicht im Garten.
Auch am nächsten nicht und auch nicht am übernächsten.
Frau Kolusch wusste natürlich Bescheid. Ich habe gehört, er hätte einen Schlaganfall, sagte sie. Wird er denn wieder gesund? fragte ich sie erschrocken. Das weiß nur der liebe Gott, seufzte sie und fügte hinzu: er war ja schon recht alt, nicht wahr.
Die Blumen welkten und das Wetter wurde kühler. Von meinem Fenster aus beobachtete ich, wie der Wind durch den Garten des alten Mannes fegte und die Blütenblätter aufwirbelte, spielerisch hoch in die Luft trug und unbarmherzig wieder fallen ließ. Der Wind heulte und lachte und meckerte wenn er um das Haus wehte. Der alte Mann kam nicht wieder.
Die Blätter des alten Apfelbaums verfärbten sich und fielen nieder, bedeckten den Boden und die welkenden Blumen unter einem bunten, raschelnden Teppich.
Eines Tages kamen Bauarbeiter mit Baggern und Presslufthammern. Der alte Mann ist verstorben, teilte Frau Kolusch der kleinen Gruppe Nachbarn mit, die sich wiedermal auf dem Parkplatz versammelt hatte, und schaute wichtigtuerisch in die Runde und versuchte gleichzeitig ein betroffenes Gesicht zu machen. Es sah komisch aus. Sie warf den neugierigen Nachbarn die Informationen häppchenweise zu, wie ein Dompteur den Löwen die Fleischhäppchen zuwirft. Der Sohn hat den Garten jetzt übernommen und endlich das Stück Land verkauft. Wurde ja auch Zeit!, meldete sich der pensionierte Lehrer von gegenüber zu Wort, das war ein öffentliches Ärgernis, dieser Garten!
Bei der Summe, die ihm die Stadt dafür zahlt, da hat der ja keinen schlechten Gewinn gemacht, fügte eine Nachbarin hinzu, der Rest des Gartens ist ja nicht viel wert und gewiss schwer verkäuflich.
Er will ihn selber nutzen, also der Sohn, wusste Frau Kolusch Bescheid, allerdings hat er ziemlich viel investieren müssen, im Stamm des alten Apfelbaums sei ein Hummelnest gewesen und diese Schädlingsbekämpfer sind ja so teuer!
Ärgerlich, sagte der pensionierte Lehrer von gegenüber und die anderen nickten verständnisvoll.
Damit zerstreute sich die Gruppe wieder.
Von meinem Fenster aus konnte ich sehen, wie der Sohn einen neuen Zaun anbringen ließ. An einem anderen Tag wurde ein Rollrasen verlegt. Wenn die Presslufthammer der Bauarbeiter kurz aussetzten, konnte man das Zirpen der Grillen hören.
Die Baustelle macht viel Dreck, beschwerte sich der pensionierte Lehrer von gegenüber, aber immerhin sei die Straße dann bald begradigt.
Der Asphalt war dunkler an der Stelle, wo der Garten war. Wie eine schlecht verheilte Narbe im Gesicht der Straße.
Ich stand auf dem frischen Asphalt und fühlte den Garten, als ich beobachtete, wie meine Tränen auf den Boden fielen und in den zweidreiviertel Metern Himmel versiegten.
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