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Sensationsfund
(von Björn Willems)

(prämiert mit dem 4. Platz des 7. Kölner Kurzgeschichten-Wettbewerbs)

 

 

Es war ziemlich warm in dieser Grube. Genaugenommen war es sogar heiß. Selbst die Zeltplane, die man über der ganzen Ausgrabungsstätte gespannt hatte, konnte daran nichts ändern. Eher im Gegenteil: Die ganze Hitze staute sich nur unter dem Tuch. Aber wirklich störte sich niemand daran in der Grube. Die Hitze war vollkommen nebensächlich, angesichts der Entdeckung, die man hier zu machen hoffte.

Dabei waren es nur Knochen, die sie hier ausgruben; nicht einmal echte Knochen, sondern die versteinerten Abbilder von Knochen. Sie hatten zwar noch nicht allzu viel von diesem Tier freigelegt, das vor einigen Millionen Jahren hier offenbar verendet war, aber der Professor, wie ihn hier alle nannten, war sich sicher, dass es sich um ein bisher unbekanntes Tier handeln musste. Allein die Füße, die sich dunkel aus dem Grundgestein wölbten, waren für ihn Beweis genug.

„Um was könnte es sich handeln?“ fragte sie den Professor, „ich habe noch nie etwas Ähnliches gesehen.“

„Ein Affe, ganz klar ein Affe,“ sagte der Professor angespannt, ohne seinen Blick von seiner Arbeit zu nehmen, „zuerst hatte ich gedacht, es könnte sich um einen Bären handeln.“

„Dachte ich auch,“ bestätigte sie, „fünf Zehen und offenbar eine relativ flache Sohle. Aber wie kommen sie ausgerechnet auf einen Affen? Müsste der große Zeh nicht abgespreizt sein?“

„Das ist schon ganz richtig, Mädchen,“ sagte der alte Kauz und nur von ihm ließ sie sich diese Anrede gefallen, „die Ferse und auch die Anzahl der Fußknöchel deuten aber viel mehr auf einen Affen hin.“

„Aber so kann das Tier doch nicht in Bäumen geklettert sein,“ meinte sie immer noch nicht ganz überzeugt.

Der Professor, er war auf jeden Fall eine Koryphäe auf seinem Gebiet, neigte manchmal zu vorschnellen Urteilen, und sie selbst war ja inzwischen mehr als nur eine Hilfskraft. Sie hatte schließlich unter ihm promoviert und war im Grunde alles andere, als ein Mädchen. Aber schon in ihrem ersten Semester hatte sie den Professor kennengelernt und hatte sich von seinem Enthusiasmus anstecken lassen. Wäre er nicht gewesen, wäre sie jetzt nicht hier; womöglich hätte sie ihr Studium schon nach zwei Wochen hingeschmissen.

„Wie lange werden sie wohl noch brauchen?“ holte eine schrille Stimme vom Grubenrand sie wieder in die Realität zurück. „Jede Stunde, die sie hier verbrauchen, kostet bares Geld!“

Die Stimme stammte vom Bauleiter, der, wie es in einem Fall wie diesem üblich war, äußert ungehalten war, dass er nicht mit den Bauarbeiten fortfahren konnte, solange sie hier waren. Dabei waren sie erst seit zwei Stunden dabei, das Fossil soweit freizulegen, dass sie es zur genaueren Untersuchung abtransportieren konnten.

„Sie werden sich wohl noch ein wenig gedulden müssen,“ rief sie zum Bauleiter hoch. „Wir haben es hier vermutlich mit einer ganz großen Sache zu tun.“

„Das ist mir völlig gleich,“ schnappte er zurück. „Sie müssen ja schließlich keine Termine einzuhalten.“

„Je länger sie uns von der Arbeit mit ihrem Geschnatter abhalten,“ fuhr sie ihn scharf an, „desto länger wird es dauern!“

Darauf hatte er dann keine Antwort mehr. Es wäre sicher besser gewesen, ein wenig diplomatischer vorzugehen. Aber das war jetzt schon das dritte Mal, dass er sich nach ihrem Fortschritt informiert hatte und allmählich ging er ihr auf die Nerven. Der Professor hingegen ließ sich von solchen Lappalien nicht bremsen. Sie glaubte, dass er den kurzen Wortwechsel gar nicht mitbekommen hatte. Sie wunderte sich, ob sie jemals genauso ausgeglichen sein würde. Wenn ja, dann hatte sie noch einen langen Weg vor sich und der Bauleiter, der auf sie mehr wie ein aufgeregter Pinguin wirkte, half nur wenig, dieses Ziel zu erreichen. Immerhin schien er sich jetzt wieder um den Teil seiner Baustelle kümmern zu wollen, der nicht durch die Ausgrabung beeinträchtigt wurde. Er ging weg und endlich konnte auch sie sich wieder ungestört dem Fossil widmen.

Man musste sehr vorsichtig sein, um nichts zu zerstören. Das machte das Ganze eben so zeitaufwendig. Wenn man nicht sorgfältig arbeitete, dann konnten wichtige Indizien unwiederbringlich verloren gehen. Wenn es sich tatsächlich um eine bisher unbekannte Affenart handelte, dann wäre dies eine Tragödie. Die Zeiten, in denen Spitzhacke und Meißel die Hauptwerkzeuge der Paläontologie darstellten, waren zum Glück schon lange vorbei.

„Wie groß schätzen dieses Tier ein?“ fragte sie den Professor.

„Schwer zu sagen, mein Mädchen,“ sagte er, „aber auf jeden Fall zu groß, um ihn Bäumen leben zu können. Das würde auch diese ungewöhnliche Fußform erklären. Zum Klettern sind diese Füße jedenfalls nicht besonders geeignet. Nein, ich glaube, es handelt sich hier eher um einen Bodenbewohner, der sich weit besser an diesen Lebensraum angepasst, als seine Vettern. Sie wissen, wovon ich rede?“

Natürlich wusste sie das. Manchmal war es wirklich anstrengend, sich mit ihm zu unterhalten. Er vergaß immer wieder, dass sie inzwischen nicht mehr seine Schülerin war, sondern seine Kollegin. Andere fossile Affen hatten immer vier Greiforgane gehabt, auch wenn es ganz offensichtlich war, dass sie zu schwer waren, um sich von Ast zu Ast schwingen zu können. Auch der Kamerad, den sie jetzt mühevoll zu sichern versuchten, machte da wohl keine Ausnahme.

„Wunderbar,“ gurrte der Professor entzückt, denn er hatte einen Teil einer Hand freigelegt, „ganz ohne Zweifel, es ist ein Affe! Sehen sie nur, Mädchen, dieser Daumen!“

Der war wirklich ungewöhnlich. Obwohl ganz klar eine Affenhand, zeigte gerade der Daumen eine Besonderheit auf, die sie noch nie bei einem Affen gesehen hatte: Wenn sie das Gelenk richtig interpretierte, dann konnte dieses Tier den Daumen den restlichen Fingern gegenüberstellen. Damit konnte man richtig greifen und nicht einfach nur umfassen.

„Unfassbar,“ musste auch sie sagen, „die Gesteinsschichten sind mindestens zehn Millionen Jahre alt!“

„Zehn?“ sagte er, „sie sind immer noch genauso vorsichtig in ihren Schätzungen, wie immer. Aber wir werden es schon herausfinden, wenn wir erst einmal alles geborgen haben. Auf jeden Fall haben wir hier eine Sensation vor uns liegen, ganz egal, wie alt unser Freund hier ist. Ich bin gespannt darauf, wie der Schädel aussieht.“

Sie kannte Affenschädel. Sie unterschieden sich untereinander natürlich stark. Dennoch war allen eines gemein: Sie hatten relativ große Gehirne und die noch lebenden Arten waren verblüffend clever. Außerdem waren sie die Lieblinge von Jung und Alt in den Zoos dieser Welt; dicht gefolgt von kleinen Pinguinen.

„Seit über vier Stunden steht hier der Betrieb,“ drängte plötzlich wieder der Bauleiter über ihnen. „Können sie jetzt vielleicht sagen, wie lange es wohl noch dauern wird, bis wir hier endlich weitermachen können?“

Der Kerl konnte einfach nicht seinen Schnabel halten. Sie seufzte. Es war schade, dass es Leute gab, die so sehr ans Geld dachten. Vermutlich gehörte er auch zu der Sorte, die mit ihren Kindern nicht mal ins Museum gingen. Bildung hatte eben nur dann einen Wert, wenn sie einem einen möglichst gut bezahlten Job verschaffte. Dabei konnte man mit fossilen Knochen tatsächlich auch Geld verdienen. Sie erinnerte sich, als sie mit ihren Eltern früher die Knochen von Dinosauriern angesehen hatte, die noch viel früher gelebt hatten, als der Kamerad vor ihr. Sie hatten schließlich Eintritt dafür bezahlen müssen. Aufgeregt flatternd, wie eine Taube, war sie damals von einem Skelett zum nächsten gelaufen – sicher auch ein Grund, warum sie sich auch später noch für diese Wissenschaft interessiert und sie dann zu ihrem Beruf gemacht hatte.

Dabei war die Knochenschau nur die Spitze des Eisbergs, der ihre Arbeit von Paläontologen ausmachte. Die wirklich interessanten Dinge drangen nur selten in die breite Masse vor. Den Bauleiter hatten sie wohl überhaupt nicht erreicht. Ein wenig tat er ihr Leid, wenn sie an seine offensichtliche Beschränktheit dachte.

„Ich denke, in etwa einer Stunde können wir damit anfangen, das Skelett aus dem Boden zu holen,“ rief der Professor hoch, obwohl er sich sicher bewusst war, dass er diese Frist wohl kaum einhalten konnte.

Immerhin schien sich der Bauleiter damit zufriedenzugeben und watschelte wieder weg.

„Beeilen wir uns lieber, bevor die uns rausschmeißen,“ meinte der Professor. „Ich denke, wir sollten jetzt wirklich mal den Abtransport vorbereiten sollten. Wenn wir hier großflächig arbeiten, dann zerstören wir auch nichts.“

„Wenn sie meinen, Professor,“ sagte sie und war nicht ganz glücklich mit der Entscheidung.

Trotzdem rief sie jetzt die Assistenten zusammen und sagte ihnen, was zu tun war. Zuerst mussten sie mit Gipsverbänden die bisher schon freigelegten Knochen sichern. Immerhin, sie hatten es geschafft, ein Bein bis zum Oberschenkel freilegen zu können und am Arm konnte man schon das Schultergelenk und einige Rippen erahnen.

Sobald alles eingegipst war, würde der grobe Teil der Arbeit folgen: Mit Presslufthämmern würde man den Block, in dem sich das Fossil befand, aus dem Grund lösen, um es dann mit einem Kran auf einen Transporter laden. Dieser Teil missfiel ihr. Sie mochte es nicht, wenn man, wie ein Specht eine Made aus dem Holz holte, etwas mit roher Gewalt aus dem Boden schlug. Das war keine Wissenschaft.

Leider würden sie auch keine weiteren Erkenntnisse mehr gewinnen können, bis sie den Block endlich in der Werkstatt hatten, wo sie sich dann endlich weitermachen konnten.

Der Professor hatte tatsächlich fast einhalten können, was er versprochen hatte. Es hatte nur etwa eine halbe Stunde länger gedauert, als er gesagt hatte, das Fossil zu verladen. Der Bauleiter schien zwar immer noch nicht wirklich zufrieden damit, aber wen kümmerte dieser Gockel schon?

Zwei Tage später waren sie und der Professor schon dabei, den Block mit einem speziellen Gerät zu röntgen. Es stellte sich als schwieriger heraus, als erwartet. Doch das war nur eine Frage der Feineinstellungen. Dennoch frustrierte es immer wieder, wenn man anstatt Knochen nur Rauschen auf dem Bildschirm hatte.

Sie beschloss, eine Pause zu machen. Der Professor hingegen war so voller Energie, wie man sie ihm in seinem Alter eigentlich nicht mehr vermutete. Es war ihr ein Rätsel, woher die gute Laune nahm.

„Gehen sie ruhig, Mädchen,“ zwitscherte er vergügt, „ich komme hier auch allein einen Moment zurecht. Ich rufe sie, wenn sich hier was ergibt.“

Er drückte einige Knöpfe auf der Tastatur und sofort schloss sich die Kapsel zischend um das Gestein – ein weiterer Röntgenzyklus war gestartet. Doch sie hatte nur wenig Interesse daran. Das dauerte mehr als eine Viertelstunde und vermutlich würde man in der Auswertung ohnehin wieder nichts erkennen.

Sie streckte sich, als sie die Werkstatt, wie sie ihren Arbeitsplatz liebevoll immer nannten, verließ. Erst mal einen Schluck Wasser trinken, dachte sie bei sich und ging zum Wasserspender. Es war noch ruhig in den Gängen. Um diese Zeit kam nur ab und zu der Hausmeister vorbei. In den anderen Räumen wurde noch nicht gearbeitet – das würde sich aber im Laufe des Tages noch ändern. Sie schaute aus einem Fenster und schaute auf die Eiche, die dort wuchs. Ob sich der Kamerad, den sie gerade zu röntgen versuchten, sich vielleicht mal unter so einem Baum ausgeruht hatte? Das würde sie vermutlich nie herausfinden. Knochen konnte man zwar zum Reden bringen, aber ihr Vokabular war doch sehr beschränkt.

Plötzlich ging die Tür zur Werkstatt auf und ein aufgeregter Professor stürzte heraus.

„Mädchen, das müssen sie sich ansehen!“ schnatterte er.

„Was ist denn Professor?“ fragte sie besorgt. „haben sie in den Stein sehen können?“

„Nebensächlich,“ meinte er verständnislos, „völlig nebensächlich. Wenn ich ihnen sage, was los ist, dann glauben sie mir es doch nicht. Kommen sie, das müssen sie sich ansehen.“

Sie folgte ihm in die Werkstatt, in der sich die Kapsel wieder geöffnet hatte und der Steinblock unverändert stand.

Die Anzeige auf den Bildschirmen jedoch zeigte tatsächlich etwas an. Sie konnte die Wirbelsäule erkennen und sofort fiel ihr die Form auf. Völlig anders, als bei allen Affen, die sie kannte. Auch der Hüftknochen deutete an, dass es sich hier nicht um eine bekannte Art handeln konnte.

„Das sieht so aus,“ begann sie zu stammeln, „als ob dieses Tier aufrecht gegangen ist. Vor über zehn Millionen Jahren. Sensationell!“

„Es kommt noch viel besser,“ versicherte der Professor und scrollte den Bildschirm und zeigte ihr den Schädel.

„Um Himmels willen,“ stieß sie hervor, „das stellt alles auf den Kopf, was wir über Affen zu wissen geglaubt haben. Allein die Größe der Hirnkapsel. Ich würde sagen, mindestens doppelt so groß, wie bei anderen Arten.“

„Wenn nicht sogar noch größer,“ stimmte er zu, „sein Hirnvolumen dürfte dem unserem entsprechen.“

„Wollen sie damit etwa andeuten,“ fragte sie schockiert, „dass dieser Affe intelligent gewesen sein könnte?“

„Dafür ist es noch ein wenig zu früh,“ sagte er, „aber nehmen wir es mal an. Ein intelligenter Affe, vor so langer Zeit. Mädchen, haben sie eine Vorstellung davon, was das bedeutet?“

Sie schüttelte nur den Kopf, obwohl sie es sich in etwa vorstellen konnte. Nur gut, dass die Zeiten, in denen man für solche Entdeckungen von der nächsten Klippe gestürzt wurde, inzwischen vorbei waren.

„Intelligentes Wesen, vor unserem. Und ausgerechnet Affen,“ flüsterte sie und fuhr mit ihren Krallen durch ihr Gefieder.

 

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