zum Inhalt springen

Under Construction
(von Natalia Wendkowska)

(prämiert mit dem 5. Platz des 7. Kölner Kurzgeschichten-Wettbewerbs)

 

 

„Hier entsteht eine neue Identität: Bitte geben sie jetzt die Identitätsbausteine ein, um die Persönlichkeitsstruktur zu vervollständigen.“ Flimmernd lief der Satz über den Plasmabildschirm gegenüber ihrem Krankenbett. Dies war alles Mobiliar im Raum, denn ansonsten war das weiße, schmucklose Zimmer leer.

Seitdem Emilia aufgewacht war, hörte sie nur ein statisches Rauschen, als hätte man in ihrem Kopf vergessen einen Fernseher abzuschalten. Mehrere Sekunden lag sie wach im Bett, bevor sich die weiße Lackwand neben dem Plasmabildschirm zur Seite schob und eine Krankenschwester in einer knappen, glänzenden Plastikuniform herein trat. Sie trug auf ihren violetten, künstlich zu einer Frisur geformten Haaren eine hohe Haube, welche als Display fungierte und über die eine Werbung für ein neues Medikament huschte.

Emilia sah, dass sich die Lippen der Mangagirlkrankenschwester bewegten, doch sie konnte keinen Laut wahrnehmen. Da zog die Krankenschwester ein Diagnosegerät hervor und während Emilia weiterhin geduldig beobachtete, sprang mit einem Mal ihr Gehör wieder an.

„ ..ja ja, und dann erst der ganze Medienrummel wegen dem Verfahren!“ sagte die schrille Stimme der Krankenschwester.

„Entschuldigen Sie, aber warum bin ich hier?“ wollte Emilia wissen.

Die Krankenschwester klappte das Diagnosegerät wieder ein: “Schön, man hat also einen Kommunikationskanal für sie freigemacht. Wissen Sie, Sie sind der Reload eines Backups. Aber aufgrund eines gerichtlichen Verfahrens ist der Besitzanspruch auf das gespeicherte Backup noch nicht geklärt. Es ist ja auch nicht üblich ein so altes Backup noch einmal zu laden. Ich werde jetzt den Rechtspfleger benachrichtigen, dass sie online sind.“

„Was! Moment noch!“ Doch die Krankenschwester glitt auf ihren High Heels bereits aus dem Raum.

Das Programm des Plasmabildschirms sprang wieder an. Es zeigte einen Verkäufer in sportlich-legerer Kleidung vor einer idyllischen Landschaft mit Parks, Rosenhecken und Ferienhäusern.

„Herzlich willkommen, liebes Backup! Falls Sie kein Eigen-Ich haben, dass diesen Körper beansprucht, dann ist Ihre Identität immer noch eine Baustelle! Unsere Firma bietet Ihnen eine großzügige Auswahl an interessanten Identitätsbausteinen, die ganz nach Ihrem Wunsch zusammengebaut werden können. Denken Sie doch einmal über einen erbaulichen Aufenthalt in unseren charakterbildenden Habitaten nach! Wir bieten gestaffelte Mitgliedschaften an, dass preisgünstige 100 Kilosekunden Paket, das erholsame 1 Megasekunde-Paket, oder das all-inclusive 10 Megasekunden-Paket. Wählen Sie noch heute unter den luxuriösen 1000 Habitaten aus und wir schenken ihnen 10 Kilosekunden exklusiv dazu! Erholen Sie sich, während wir heute Ihre Persönlichkeit von Morgen bauen.“

Genervt stellte Emilia den Empfang von Sprache aus und begann zu grübeln. Ihre letzte Erinnerung war, wie sie ein Backup von sich selber machte, bevor sie sich in die Domaine lud, die ihre Mutter ihr zum 18 Geburtstag geschenkt hatte. Man wusste ja nie mit diesen günstigen Domainen. Da war es immer besser, vorher ein Backup zu machen. Bevor man noch womöglich gegrillt wurde beim Datentransfer. Die meisten ihrer Freunde hatten auch solche Domainen bekommen. Die hatten sich allerdings die modernsten Formate aufgespielt. Emilia war aber immer schon ein Fan alter Retro-Serien gewesen die sie sich im Vintage-Kanal angesehen hatte. „Trotzkopf“ und „Nesthäkchen“. Deshalb hatte sie sich bei der kleinen Gemeinde der Retrofans, Formate für ein idyllisch, utopisches preußisches Kaiserreich in der Mitte des 19 Jahrhunderts besorgt und in ihre Domain gespielt und ein Backup angelegt. Backups waren ganz normale Zwischenspeicher des jeweiligen Identitätsstatus, die man üblicherweise regelmäßig machte. Dabei wurde das zuvor liegende Backup automatisch von dem Neueren überspielt, so dass man immer eine möglichst zeitnahe Version von sich selber hatte. Backups brauchte man, wenn der Körper z.b. durch einen Unfall, Krankheit oder Alter zu schaden kam. Dann spielte man das Backup einfach auf einen neuen Körper auf. Diese Aufgabe übernahmen Assembler, große Maschinen, die einen Menschen in seine atomaren Bestandteile zersetzten und ihn in jedem beliebigen anderen Assembler wieder zusammen setzen konnten. Auf diesen neuen Körper wurde dann die aktuelle Identitätsstruktur übertragen. Dafür musste man allerdings einen eigenen Prozessor haben. Dieser bestand aus intelligenten Naniten, die sich mit den neuronalen Verbindungen im Gehirn verbanden und als ein gigantischer Rechner fungierten. Das Implantieren eines Prozessors hatte die Vereinigung Europäischer Habitate allerdings erst ab 17 erlaubt. In jungen Jahren konnte es oft zu unerwünschten Psychosen kommen.

Mit dem Assembler konnte man sich natürlich auch einen jüngeren Körper wählen, ein anderes Geschlecht, oder einen völlig anderen Körper. Es kam auch vor, dass ein und dasselbe Backup zweimal auf unterschiedliche Körper gespielt wurde. Diese agierten dann ganz eigenständig und waren eigene Identitäten. Personen mit ein und demselben Backup als Ursprung nannte man im übrigen Eigen-Ich. Das Gesetzt sah vor, dass sich Eigen-Ichs in ihren Identitätsbausteinen unterschieden, denn ansonsten hätte es riesiges rechtliches Chaos gegeben. Der Unterschied konnte manchmal in nur einem einzigen Identitätsbaustein bestehen, wie etwa ein Hang zur Melancholie, oder eine Affinität zu Katzen.

Das sie jetzt wach geworden war, konnte nur bedeuten, dass etwas mit ihrem vorherigen Körper passiert war. Aber dann hätte sie normalerweise durch den Hausassembler neu gebaut werden müssen. Warum war sie nur in einem Krankenhaus?

Die weiße Wand glitt erneut zur Seite und machte für vier Gestalten den Weg frei.

Die 1. Gestalt war ein Mann in einem modischen Anzug, dessen neonrote Haare ihm etwas wirr vom Kopf abstanden. Die Gestalt neben ihm war eine große, schlanke, rotblonde Frau, Mitte 30, die einen Parka, eine weite, dunkle Stoffhose und dunkle Turnschuhe trug.

Die 3. Gestalt war ein altmodisch gekleidete Mann mit einem starren dreiteiligen Anzug, einem Halstuch, Handschuhen, Gehstock mit Silberknauf und einem Zylinder, den er nun förmlich zur Begrüßung lüftete.

Die 4. Gestalt war ein Kommunikationsbot der auf zwei Raupenrädern hereinrollte und als Kanal für den Rechtspfleger fungierte:

„Rechtspfleger A877. Im Auftrag des hohen Gerichts überwache ich die Begehung des Streitgegenstandes Backup Emilia. Aktz.496932 - Fall Signora Ende gegen das Habitat „Das Kaiserreich“. Für die Klägerin ist erschienen: Herr Rechtsanwalt Besathan und die Klägerin persönlich, Signora Ende. Für die Beklagte ist erschienen: Herr Rechtsanwalt Lanzer.

Backup Emilia, sie sind ein Backup der Identitätsstruktur Signora Ende, welche diese vor 2   Gigasekunden erstellt hat. Das Backup wurde auf den Speicher des Habitates „Das Kaiserreich“ gespielt, weshalb es isoliert in den vergangenen Gigasekunden war und nicht durch die neueren Backups überspielt wurde. „Das Kaiserreich“ hat das Backup vor 560 Sekunden auf einen Körper spielen lassen. Signora Ende wiederspricht diesem Akt, sie plädiert auf unrechtmäßige Nutzung eines Backups. „Das Kaiserreich“ hat allerdings als Habitat mit einer Anzahl von über 10 Millionen Menschen rechtlich einen Status als „Staat“, weshalb es als juristische Person auftreten darf. Außerdem wären dann alle Inhalte des Habitats als Staatsbesitz zu behandeln. Das Habitat plädiert auf Abweisung der Klage. Das Eigen-Ich von Signora Ende, welches die Identitätsstruktur Kaiserin Sophia hat und als absolute Monarchin über das Habitat „Das Kaiserreich“ herrscht, ist vor 310 Sekunden verstorben. „Das Kaiserreich“ wünscht die Identitätsstruktur von Kaiserin Sophia auf das Backup zu spielen und sie als neue Regentin einzusetzen. Würden nun beide Seiten darlegen worauf sie plädieren?“

Herr Besathan schob sein spitzes Kinn vor uns sagte: “Die Klägerin plädiert auf Termination des Backups.“

Zu ihrer Überraschung fühlte Emilia keinerlei Gefühlsregung. Sollte sie jetzt nicht emotional auf die Androhung ihrer Termination reagieren? Vermutlich lag es daran, dass man sie zwar mit Erinnerungen, aber noch nicht mit den Identitätsbausteinen ausgestattet hatte. Deshalb war sie im Augenblick wohl eher so etwas wie ein ausgehobenes Loch, dass auf die eigentlichen Gebäudeteile wartete.

Herr Lanzer verbeugte sich artig gegen den Rechtspfleger und Emilia und sagte mit einer ruhigen, melodischen Stimme: „Das Kaiserreich“ plädiert auf die volle Anerkennung seiner Staatsrechte an dem Backup Emilia und beantragt eine Abweisung der Termination und einer Überführung des Backups in den Besitz des Habitats.“

„Vielen Dank die Herren Rechtsanwälte. Das hohe Gericht ordnet an, dass der Streitgegenstand selber befragt werden soll. Da das Backup im Moment über keine Identitätsbausteine verfügt, ordnet das Gericht an, dass jeweils ein Baustein von Seiten der Klägerin wie der Beklagten aufzuspielen ist. Nach der Aussage des Backups wird das Gericht das Urteil fällen. Ich bitte nun die Klägerin zu beginnen.“

Die Übertragung des Identitätsbausteines wurde per Funk getätigt, weshalb einige Sekunden lang alle schweigend im Raum standen. Der Kommunikationsbot verfügte über keinerlei Emotionsausdrücke, weshalb er ein wenig wie ein Lautsprecher auf einer Planierraube wirkte. Herr Besathan lächelte gewinnend den Plasmabildschirm an, während Signora Ende missbilligend und wütend Herrn Lanzer angiftete, welcher steif ihren Blick erwiderte und etwas traurig aussah. Dann war der Upload beendet. Für Emilia war es also ob sie sich plötzlich und sehr intensiv an ein Ereignis aus ihrer Vergangenheit erinnern konnte.

Sie war eine bedeutende Menschenrechtlerin. Während ihres Studiums in dem Habitat „Welt des Rechts“ hatte sie ihre Berufung im Leben gefunden. Zuvor war sie ziemlich verantwortungslos gewesen, hatte wie viele wohlbehütete, aber gelangweilte Kinder wohlhabender Eltern egoistisch und gedankenlos in den Tag hineingelebt. Politik und Soziales Engagement waren Fremdworte für sie gewesen und heute schämte sie sich dieser Einstellung. Sie hatte mit vielen berühmten Aktivisten  zusammen für das Recht auf freie Körperwahl gekämpft. Es gab immer noch zu viele Habitate, die ihren Habitanten den freien Zugang zu Assemblern verwehrten, und sie zwangen, in einer schicksalhaften Vorbestimmung von Körper, Geschlecht und Alter zu leben, bis dieser alles determinierende Körper schließlich „verstarb“. Eine Barbarei am Menschen.  Die Möglichkeiten mannigfaltiger Entfaltung, großer Einsicht und Weisheit wurde diesen bevormundeten Menschen verwehrt. Man musste diese Menschen befreien von den Diktaturen und Regime, die sie in unverschuldeter Unmündigkeit und Abhängigkeit gefangen hielten.

Sie spürte die Glut der Begeisterung und Überzeugung. Sie spürte den Stolz über ihre Erfolge, die Verärgerung über die Borniertheit des Gerichtes der Vereinigten Europäischen Habitate, das immer noch auf alten Eigentumsgesetzten bestand und Habitate als private Sphäre schütze. Man müsste diese diktatorischen Habitate zerschlagen. Es war doch normal und gesund seinen Körper spätestens nach 10 Jahren zu wechseln. Allen Menschen sollte dies zustehen. Es überkam sie eine Welle der Scham und heftiger Schuldgefühle, wenn sie an „Das Kaiserreich“ dachte. Sie war eben ein dummes Kind gewesen, damals, und hatte achtlos ein Eigen-Ich, die Kaiserin Sophia erschaffen, damit sie sich nicht ständig um die Updates des Habitats kümmern musste. Eine Zeit lang schaute sie ab und zu vorbei. Dann hatte sie dieses unselige Habitat ganz vergessen. Als heraus kam, dass ihr Eigen-Ich die absolute Monarchin des Habitats war, hatte es einen riesigen Wirbel in den Medien gegeben und es hatte ihr viele boshafte Angriffe eingebracht.

Sie spürte immer noch wie ihr Gesicht vor Zorn über die Unverfrorenheit glühte. Sie wusste das diese sogenannten Kritiker ihrer Methoden und ihrer Ansichten, nichts weiter waren als bigotte Nutznießer solcher Diktaturen. Sie hatte nicht umsonst in kurzer Zeit mehr als sieben Versionen von sich in Attentaten verloren.

Es war ihr sehr unangenehm, dass sie das Backup auf dem Rechner vergessen hatte. Doch es gab keinen Zweifel: Es war wichtig und richtig, sich für die rechte Sache zu opfern. Es gab keine andere Lösung. Sie musste sich weigern, die Identitätsstruktur Kaiserin Sophia zu werden, erst  das würde das Ende des monströsen Habitats bedeuten. Die Kaiserin war verstorben und eigentlich müsste das Habitat nun sowieso gelöscht werden. Aber dieser Rechtsstreit hatte das verhindert, denn nun konnte es ja sein, dass ein neues Eigen-Ich das Habitat weiterführt. Aber das musste sie verhindern und dieser Restmüll aus ihrer Vergangenheit wäre ein und für alle Mal endlich entsorgt. Dieses Backup war wie ein Abfall den man schon vor Jahren hatte wegwerfen sollen, und der sich aber unterm Schrank versteckt hatte.

Emilia spürte den starken Drang sich sofort zu terminieren, als sie sich wieder dem Krankenzimmer zuwendete. Aber sie hatte keine drei Sekunden Zeit, ihre Gedanken zu ordnen, als der zweite Identitätsbaustein fertig hochgeladen war und erneut Erinnerungen auf sie zu rasten. Dieses mal wusste sie, dass sie ein Mann war. Aber es überraschte sie, dass sie sich nicht fühlte als sei es der Körper eines Mannes. Dies lag daran, dass es unziemlich gewesen wäre, ein junges Mädchen solchen Eindrücken auszusetzen, schoss es ihr durch den Kopf. Und sogleich verstand sie: Das hier war Herr Lanzer. Er hatte sich entschieden, ihr nicht einfach ein Identitätsbaustein der Kaiserin aufzuspielen. Sondern er wollte diese Gelegenheit nutzen, ihr zu erklären, warum es nicht so war, wie es Signora Ende wahrnahm. Die Vernichtung des Habitats „Das Kaiserreich“ war nicht ein Triumph der Körperrechtler, sondern ein grausamer und unüberlegter Akt. Ein wahrer Körperrechtler musste sich vom Dogma des absolutistischen Anspruches der Körperrechte lösen und sie als das begreifen was sie waren; Eine Option die man wählen konnte. Er selber war früher ein Körperrechtler gewesen, er hatte sogar mit Signora Ende zusammen im Habitat „Die Welt des Rechts“ Körperrecht studiert und war mehrere Megasekunden lang ebenfalls Aktivist gewesen. Inzwischen war er Bürger des Habitats „Das Kaiserreich“ geworden. Emilia fühlte sich außerordentlich distanziert von diesen Erinnerung. Sie nahm sie wie einen Film wahr. Sie beobachtete, wie sich Herr Lanzer einer alten Frau in einem Schaukelstuhl näherte. Sah wie er seinen Zylinder zog. Ihn auf die genau parallel gehaltenen Beine ablegte. Darauf seine silber-grauen Handschuhe legte und den Gehstock noch vor den Zylinder platzierte. Sie hörte seine tiefe Stimme in ihren Ohren vibrieren, als würde sie selber sprechen: „Guten Tag Oma Lotta, bitte entschuldigen Sie, dass ich meinen Besuch nicht zuvor angekündigt habe. Aber ich möchte Sie darum bitten, mit Ihren eigenen Worten dazulegen, warum Sie in das Habitat eingetreten sind.“

Oma Lotta beugte sich in ihrem quietschenden Schaukelstuhl vor und sprach:

„Hmm – nun als ich 25 Jahre alt war, habe ich ein mit einem Virus infiziertes Update in meinen Prozessor eingespielt. Es gab damals Tausende Opfer dieses Virus. Bei allen fiel der Prozessor aus. Dies ließ sich nicht wieder reparieren. Jeder Versuch, das Virus vom Prozessor zu eliminieren, führte zu heftigem, tödlichen Fieber. Also hat man uns empfohlen, diese Körper zu terminieren und einfach ein früheres Backup von vor dem Befall neu zu laden. Meine Eltern hatten sofort zugestimmt. Aber ich fand es nicht richtig, einen Körper einfach so wegwerfen, nur weil er nicht mehr „perfekt“ ist. Ich verurteile niemanden von damals, der es getan hat. So eine Frau bin ich nicht. Nur ich wollte es nicht. Also bin ich von zu Hause weggelaufen und habe die Staatsbürgerschaft für dieses Habitat beantragt. Hier habe ich auch meinen Mann kennen gelernt. Er war aus Überzeugung hierher gekommen. Er war ziemlich altmodisch und kam mit diesen neuen Sachen wie Assemblern und Prozessoren nicht zurecht. Hier hat das Niemanden gestört. Das ist die kurze und die lange Version.“

„Aber stört es Sie nicht zu sterben?“

Sie gab ein glucksendes Lachen von sich: “Warum sollte es das Söhnchen? Wenn ich den Anweisungen gefolgt wäre, dann wäre diese Variante von mir, mit dieser einen Erfahrung, was es bedeutet, wenn man seinen Prozessor verliert, schon lange tot. Diese Erfahrung hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Sie macht mich einzigartig. Ich finde, ich habe viel daran gewonnen.“

Sie beobachtete, wie Herr Lanzer sich höflich verabschiedete und sie hörte seine Stimme zu sich selber sagen: „Ich habe erkannt, dass ein echter Körperrechtler verstehen muss, dass eine freie Wahl ebenso die Möglichkeit beinhalten muss, auch die Unfreiheit zu wählen. Sonst ist die Wahl nicht frei. Wenn die Welt sich verändert, dann kommt früher oder später die Frage auf, was man mit den Menschen machen will, die diese Veränderung nicht mitmachen wollen. Die Welt braucht eine Zuflucht, für jene die nicht in sie passen; sei es, weil sie nicht passen wollen, oder weil sie es nicht können. Das Habitat ist so eine Zuflucht. Sie ist der Lebensort von über 10 Millionen Menschen. Dies darf man nicht verantwortungslos wie alten Müll wegwerfen, nur weil es nicht in die eigene schöne neue Welt passt. - Ich missbillige ihre Meinung, aber ich werde dafür kämpfen, das Sie sie aussprechen dürfen! – sagte Voltaire - ein Menschenrechtler der aus der Zeit vor der Assemblerevolution stammt.“

Als die Erinnerung wieder in einen Fluss der Gedanken versank, ließ Emilia noch ein paar Sekunden länger die Augen geschlossen. Sie musste nachdenken.

Dann öffnete sie die Augen und blickte die Anwesenden klar an, sie wusste nun genau, was sie von der Sache zu halten hatte.

„Äh, Verzeihung, Herr Rechtspfleger ist es mir erlaubt, etwas zu sagen?“ Es wurde ihr die Stimme erteilt.

„Ich lehne es ab Kaiserin Sophia zu werden. Diese Identitätsstruktur war eine Spielerei. Ihr mangelt es an Verantwortungsgefühl“

Signora Ende jubelte auf.

„Oh Sie sollten sich nicht so erhitzen, Signora Ende. Ich lehne die Terminierung dieses Backups ebenso entschieden ab. Sie finden also, ich bin alter Müll den Sie vergessen haben, zu entsorgen? Ihre Haltung ist ebenso verantwortungslos, wie die der Kaiserin. Das Habitat „Das Kaiserreich“ ist das Heim von Millionen von Menschen. Es wäre verantwortungslos, diese einfach so, ihrer Lebensgrundlage zu berauben!“

„Was – wie kannst du nur, du bist mein Backup – mein Backup! So würde ich mich niemals verhalten!“ kreischte Signora Ende auf.

„Ich werde mich nicht terminieren lassen für Ihre Überzeugungen, Signora Ende!“ sagte Emilia entschlossen. „Aber ich werde mich auch nicht zu Kaiserin Sophia machen lassen. Hohes Gericht, wäre es möglich, dass man mich als Eigen-Ich anerkennt und mir die Erlaubnis erteilt das Habitat „Das Kaiserreich“ als dieses Eigen-Ich zu übernehmen?“

Der Kommunikationsbot schwieg einige Sekunden. Dann sagte er: “ Das hohe Gericht vertritt die Auffassung, dass das Backup Emilia mit dieser selbständigen Aktion gezeigt hat, dass es zu einer  Identitätsermergenz gekommen ist, ein eigener Identitätsbaustein. Somit erfolgt folgendes Urteil: Die Klage der Klägerin wird abgewiesen. Ebenso der Antrag der Beklagten. Die Rechte an dem Backup werden umgehend an die Identitätstruktur Emilia übertragen.“

Signora Ende musste von ihrem Anwalt aus dem Zimmer gezogen werden. So sehr tobte sie und schrie den inzwischen verstummten Kommunikationsbot an.

Nur Herr Lanzer war zurück geblieben, hielt etwas steif Handschuhe, Gehstock und Zylinder in der Hand und schaute Emilia fragend an: „Und warum haben Sie sich für das Habitat entschieden, immerhin ist Ihnen ja ein Identitätsbaustein von Signiora Ende aufgespielt worden?“

„Ja, und ich fühle mich ein wenig als Körperrechtlerin und ich will unbedingt mehr darüber erfahren. Aber ich finde auch, dass Sie Recht haben. Die Menschen brauchen eine Wahl – eine echte Wahl. Was mich dazu bringt, das Kaiserreich braucht dringend ein Förderprogramm für junge Menschen, die das Habitat gerne verlassen möchten und anders leben wollen. Auch die Bürger des Habitats haben ein Recht auf ihre freie Wahl.“

Lanzer begann zu lächeln, was ihn spontan weniger steif aussehen lies: “Haben Ihre Majestät da schon einen konkreten Vorschlag?“

Während sie zusammen das Zimmer verließen sprang auf dem Plasmabildschirm erneut der Schriftzug an: „Hier entsteht eine neue Identität!“

 

 

© 2009 by KKW. Alle Rechte liegen bei der Autorin.

*